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III.

Die Ausdehnung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität.

Bei dem Verhältnis zwischen der Ausbildung der Individualität und dem socialen Interesse ist vielfach zu beobachten, dafs die Höhe der ersteren Schritt hält mit der Erweiterung des Kreises, auf den sich das letztere erstreckt. Haben wir zwei sociale Gruppen, M und N, die sich scharf von einander unterscheiden, sowohl nach den charakteristischen Eigenschaften wie nach den gegenseitigen Gesinnungen, deren jede aber in sich aus homogenen und eng zusammenhängenden Elementen besteht: so bringt die gewöhnliche Entwicklung unter den letzteren eine steigende Differenzierung hervor; die ursprünglich minimalen Unterschiede unter den Individuen nach aufserlichen und innerlichen Anlagen und deren Bethätigung verschärfen sich durch die Notwendigkeit, den umkämpften Lebensunterhalt durch immer eigenartigere Mittel zu gewinnen; die Konkurrenz bildet bekanntlich die Specialität des Individuums aus. Wie verschieden nun auch der Ausgangspunkt dieses Prozesses in M und N gewesen sei, so mufs er diese doch allmählich einander verähnlichen. Es ist von vornherein wahrscheinlich, dafs, je gröfser die Unähnlichkeit der Bestandteile von M unter sich und derer von N unter sich wird, sich eine immer wachsende Anzahl von Bildungen im einen finden werden, die solchen im andern ähnlich sind; die nach allen Seiten gehende Abweichung von der bis dahin für jeden Complex für sich giltigen Norm mufs notwendig eine Annäherung der Glieder des einen an die des andern

1 Dieses Kapitel erschien in verkürzter Form vor mehreren Jahren in der Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. XII, Heft 1.

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erzeugen. Schon deshalb wird dies geschehen, weil unter noch so verschiedenen socialen Gruppen die Formen der Differenzierung gleich oder ähnlich sind: die Verhältnisse der einfachen Konkurrenz, die Vereinigung vieler Schwacher gegen einen Starken, die Pleonexie Einzelner, die Progression, in der einmal angelegte individuelle Verhältnisse sich steigern u. s. w. Die Wirkung dieses Prozesses von der blos formalen Seite kann man häufig in der internationalen Sympathie beobachten, die Aristokraten unter einander hegen und die von dem specifischen Inhalt des Wesens, der sonst über Anziehung und Abstofsung entscheidet, in wunderlicher Weise unabhängig ist. Nachdem der sociale Differenzierungsprozess zu der Scheidung zwischen Hoch und Niedrig geführt hat, bringt die blos formale Thatsache einer bestimmten socialen Stellung die durch sie charakterisierten Mitglieder der verschiedenartigsten Gruppen in innerliche, oft auch aufserliche Beziehung.

Dazu kommt, dafs mit einer solchen Differenzierung der socialen Gruppe die Nötigung und Neigung wachsen wird, über ihre ursprünglichen Grenzen in räumlicher, ökonomischer und geistiger Beziehung hinauszugreifen und neben die anfängliche Centripetalität der einzelnen Gruppe bei wachsender Individualisierung und dadurch eintretender Repulsion ihrer Elemente eine centrifugale Tendenz als Brücke zu andern Gruppen zu setzen. Wenige Beispiele werden für diesen an sich einleuchtenden Vorgang genügen. Während ursprünglich in den Zünften der Geist strenger Gleichheit herrschte, der den Einzelnen einerseits auf diejenige Quantität und Qualität der Produktion einschränkte, die alle andern gleichfalls leisteten, andererseits ihn durch Normen des Verkaufs und Umsatzes vor Überflügelung durch den andern zu schützen suchte, war es doch auf die Dauer nicht möglich, diesen Zustand der Undifferenziertheit aufrecht zu halten. Der durch irgendwelche Umstände reich gewordene Meister wollte sich nicht mehr in die Schranken fügen, nur das eigene Fabrikat zu verkaufen, nicht mehr als eine Verkaufsstelle und eine sehr beschränkte Anzahl von Gehülfen zu halten, und Ähnliches. Indem er aber das Recht dazu, zum Teil unter schweren Kämpfen, gewann, musste ein Doppeltes eintreten: einmal mufste sich die ursprünglich homogene Masse der Zunftgenossen mit wachsender Entschiedenheit in Reiche und Arme, Kapitalisten und Arbeiter differenzieren; nachdem das Gleichheitsprinzip einmal so weit durchbrochen war, dafs Einer den Andern für sich arbeiten lassen und seinen Absatzmarkt frei nach seiner persönlichen Fähigkeit und Energie, auf seine Kenntnis der Verhältnisse und seine Chancenberechnung hin, wählen durfte, so mufsten eben jene persönlichen Eigenschaften mit der Möglichkeit, sich zu entfalten, sich auch stei

gern und zu immer schärferen Specialisierungen und Individualisierungen innerhalb der Genossenschaft und schliefslich zur Sprengung derselben führen. Andererseits aber wurde durch diese Umgestaltung ein weiteres Hinausgreifen über das bisherige Absatzgebiet gegeben; dadurch, dafs der Producent und der Händler, früher in einer Person vereinigt, sich von einander differenzierten, gewann der letztere eine unvergleichlich freiere Beweglichkeit und wurden früher unmögliche kommerzielle Anknüpfungen erzielt. Die individuelle Freiheit und die Vergröfserung des Betriebes stehen in Wechselwirkung. So zeigte sich bei dem Zusammenbestehen zünftiger Beschränkungen und grofser fabrikmässiger Betriebe, wie es etwa anfangs dieses Jahrhunderts in Deutschland stattfand, stets die Notwendigkeit, den letzteren die Produktionsund Handelsfreiheit zu lassen, die man den Kreisen kleinerer und engerer Betriebe kollektivistisch einschränken konnte oder wollte. Es war also eine zwiefache Richtung, in der die Entwicklung von dem engen homogenen Zunftkreise aus führte und die in ihrer Doppelheit die Auflösung desselben vorbereiten sollte einmal die individualisierende Differenzierung und dann die an das Ferne anknüpfende Ausbreitung. Die Geschichte der Bauernbefreiung zeigt z. B. in Preufsen einen in dieser Beziehung ähnlichen Prozefs. Der erbunterthänige Bauer, wie er in Preufsen bis etwa 1810 existierte, befand sich sowohl dem Lande wie dem Herrn gegenüber in einer eigentümlichen Mittelstellung; das Land gehörte zwar dem letzteren, aber doch nicht so, dafs der Bauer nicht gewisse Rechte auf dasselbe gehabt hätte. Andererseits musste er zwar dem Herrn auf dessen Acker frohnden, bearbeitete aber daneben das ihm zugewiesene Land für seine eigene Rechnung. Bei der Aufhebung der Leibeigenschaft wurde nun dem Bauer ein gewisser Teil seines bisherigen, zu beschränkten Rechten besessenen Landes zu vollem und freiem Eigentum übermacht, und der Gutsherr war auf Lohnarbeiter angewiesen, die sich jetzt zumeist aus den Besitzern kleinerer, ihnen abgekaufter Stellen rekrutierten. Während also der Bauer in den früheren Verhältnissen die teilweisen Qualitäten des Eigentümers und des Arbeiters für fremde Rechnung in sich vereinigte, trat nun scharfe Differenzierung ein: der eine Teil wurde zu reinen Eigentümern, der andere zu reinen Arbeitern. Wie aber hierdurch die freie Bewegung der Person, das Anknüpfen entfernterer Beziehungen hervorgerufen wurde, liegt auf der Hand; nicht nur die Aufhebung der äufserlichen Bindung an die Scholle kam dafür in Betracht, sondern auch die Stellung des Arbeiters als solchen, der bald hier, bald dort angestellt wird, andererseits der freie Besitz, der Veräufserlichungen und damit kommerzielle Beziehungen, Umsiedlungen u. s. w. ermöglicht. So begründet sich die im ersten Satz ausgesprochene

Beobachtung: die Differenzierung und Individualisierung lockert das Band mit den Nächsten, um dafür ein neues ideales zu den Entfernteren zu spinnen.

reales und

Ein ganz entsprechendes Verhältnis findet sich in der Tier- und Pflanzenwelt. Bei unsern Haustierrassen (und dasselbe gilt für die Kulturpflanzen) ist zu bemerken, dafs die Individuen derselben Unterabteilung sich schärfer voneinander unterscheiden, als es mit den Individuen einer entsprechenden im Naturzustande der Fall ist; dagegen stehen die Unterabteilungen einer Art als Ganze einander näher, als es bei unkultivierten Species der Fall ist. Die wachsende Ausbildung durch Kultivierung bewirkt also einerseits ein schärferes Hervortreten der Individualität innerhalb der eigenen Abteilung, andererseits eine Annäherung an die fremden, ein Hervortreten der über die ursprünglich homogene Gruppe hinausgehenden Gleichheit mit einer gröfseren Allgemeinheit. Und es stimmt damit vollkommen überein, wenn uns versichert wird, dafs die Haustierrassen unzivilisierter Völker viel mehr den Charakter gesonderter Species tragen, als die bei Kulturvölkern gehaltenen Varietäten; denn jene sind eben noch nicht auf den Standpunkt der Ausbildung gekommen, der bei längerer Zähmung die Verschiedenheiten der Abteilungen vermindert, weil er die der Individuen vermehrt. Und hierin ist die Entwicklung der Tiere der ihrer Herren proportional: in roheren Zeiten sind die Individuen eines Stammes so einheitlich und einander so gleich als möglich; dagegen stehen die Stämme als Ganze einander fremd und feindlich gegenüber: je enger die Synthese innerhalb des eigenen Stammes, desto strenger die Antithese gegenüber dem fremden; mit fortschreitender Kultur wächst die Differenzierung unter den Individuen und steigt die Annäherung an den fremden Stamm. Dem entspricht es durchaus, dafs die breiten ungebildeten Massen eines Kulturvolkes unter sich homogener, dagegen von denen eines andern Volkes durch schärfere Charakteristiken geschieden sind, als Beides unter den Gebildeten beider Völker statthat. Und in Bezug auf die Reflexe, die dieses Verhältnis in den beobachtenden Geist wirft, mufs Gleiches stattfinden, und zwar auf Grund der wichtigen psychologischen Regel, dafs differente, aber zu dem gleichen Genus gehörige und in einer gewissen Einheit zusammengefafste Eindrücke miteinander verschmelzen und sich dadurch gegenseitig derart paralysieren, dafs ein mittlerer Eindruck herauskommt; eine der extremen Qualitäten wird durch die andere ausgeglichen, und wie die äufserst verschiedenen Farben das farblose weifse Licht zusammensetzen, so bewirkt eine Mannichfaltigkeit sehr verschieden veranlagter und bethätigter Persönlichkeiten, dafs das Ganze, in dem die Vorstellung sie zusammenfafst, einen indifferenteren, der scharfkautigen Ein

seitigkeit entbehrenden Charakter trägt. Die Reibung zwischen scharf ausgebildeten Individualitäten, die in der Wirklichkeit zu Ausgleichungen oder Konflikten führt, findet auch im subjektiven Geiste statt. Je differenzierter ein Kreis seinen Bestandteilen nach ist, desto weniger wird er als ganzer einen individuellen Eindruck machen, weil jene sich sozusagen gegenseitig nicht zu Worte kommen lassen, sich gegenseitig zu einem Durchschnittseindruck aufheben, der um so unbestimmter sein wird, je mehre und je verschiedenere Faktoren zu ihm zusammenwirken.

Dieser Gedanke lässt sich auch verallgemeinernd so wenden, dafs in jedem Menschen ceteris paribus gleichsam eine unveränderliche Proportion zwischen dem Individuellen und dem Socialen besteht, die nur die Form wechselt: je enger der Kreis ist, an den wir uns hingeben, desto weniger Freiheit der Individualität besitzen wir; dafür aber ist dieser Kreis selbst etwas Individuelles, scheidet sich, eben weil er ein kleiner ist, mit scharfer Begrenzung gegen die übrigen ab. Die sociale Ordnung des Quäkertums zeigt dies recht klar. Als Ganzes, als Religionsprinzip von dem extremsten Individualismus und Subjektivismus, bindet es die Gemeindeglieder in höchst gleichförmige, demokratische, alle individuellen Unterschiede möglichst ausschliefsende Lebens- und Wesensart; dafür mangelt ihm aber jedes Verständnis für die höhere staatliche Einheit und ihre Zwecke, sodafs die Individualität der kleineren Gruppe einerseits die der Einzelnen, andererseits die Hingabe an die grofse Gruppe ausschliefst. Und nun stellt sich dies im einzelnen darin dar: in dem, was Gemeindesache ist, in den gottesdienstlichen Versammlungen, darf jeder als Prediger auftreten und reden, was und wann es ihm beliebt; dagegen wacht die Gemeinde tiber die persönlichen Angelegenheiten, z. B. die Eheschliefsung, sodafs diese ohne Einwilligung eines zur Untersuchung des Falles eingesetzten Komitees nicht stattfindet. Sie sind also individuell nur im Gemeinsamen, aber social gebunden im Individuellen. Und nun entsprechend: erweitert sich der Kreis, in dem wir uns bethätigen und dem unsere Interessen gelten, so ist darin mehr Spielraum für die Entwicklung unserer Individualität; aber als Teile dieses Ganzen haben wir weniger Eigenart, dieses letztere ist als sociale Gruppe weniger individuell.

Wenn so die Tendenzen zur Individualisierung einerseits, zur Undifferenziertheit andererseits sich derart gleich bleiben, dafs es relativ gleichgiltig ist, ob sie sich auf dem rein persönlichen oder auf dem Gebiet der socialen Gemeinschaft, der die Person angehört, zur Geltung bringen, so wird das Plus an Individualisierung oder ihrem Gegenteil auf dem einen Gebiet ein Minus auf dem andern fordern. Auf diese Weise kommen wir zu einer allgemeinsten Norm, welcher die Forschungen (42) X 1. — Simmel.

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